Die E-Gitarre in der Geschichte der Rockmusik am Beispiel von JIMI HENDRIX

Quellenangabe: (Auszug) - Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers Martin Rudkowski www.rudkowski.com

Lebenslauf und musikalischer Werdegang

Jimi Hendrix wurde am 27. November 1942 als Johnny Allen Hendrix in Seattle, Washington geboren. Sein Vater Al ändert jedoch 1946 den von seiner Frau Lucille ausgesuchten Namen um in James Marshall. Da es in der Ehe ständig zu Konflikten kommt, wächst James vorwiegend bei Freunden und Verwandten auf. Er bekommt vier weitere Geschwister, bevor die Ehe 1951 geschieden wird. Nach der Scheidung lebt er und ein Bruder bei seinem Vater, die anderen Geschwister kommen in Pflegefamilien unter.
Als fünfzehnjähriger entwickelt er ein verstärktes Interesse an der Musik und bastelt sich selbst Saiteninstrumente, bis er schließlich von seinem Vater eine alte Ukulele geschenkt bekommt. Da er autodidaktisch schnell Fortschritte macht, kann er ein Jahr später seinen Vater dazu überreden, ihm endlich eine elektrische Gitarre zu kaufen. Ein weiteres Jahr später, 1959, gründet er mit Freunden seine erste Band. Ende 1960 beendet er seine Schullaufbahn ohne Abschluß, um sich nur noch dem Gitarrenspiel zu widmen. Da die Bands, in denen er spielt aber zu wenig einbringen, arbeitet er schließlich zusammen mit seinem Vater als Gärtner.
Im Mai 1961 verpflichtet sich Jimmy (wie er mittlerweile genannt wird) für drei Jahre als Soldat und wird Fallschirmspringer bei der US-Army. Nach etwas mehr als einem Jahr muß er seinen Dienst wegen einer Verletzung beenden.
Im Juli 1962 kehrt er ins zivile Leben zurück und beginnt hauptberuflich als Musiker zu arbeiten. In den nächsten vier Jahren spielt er als Begleitgitarrist in einer Vielzahl von Bands. Diese Gastspiele währen meist nur für kurze Zeit, da sich schon zu dieser Zeit sein ungewöhnlicher Stil sowohl musikalischer Art als auch in Form seiner Bühnenpräsentation entwickelt. Die Reaktion darauf äußert sich entweder in Unverständnis oder in purer Angst, er könne den eigentlichen Stars "die Show stehlen". Die bekanntesten Musiker, für die er spielte, waren Curtis Mayfield, Sam Cooke, B.B. King, The Supremes, Ike&Tina Turner, dem Duo Sam&Dave sowie Little Richard.

Auch wenn er die lange Zeit des Tourens durch die Staaten durchaus als musikalische Schule begriff, wuchs seine Frustration darüber, daß er seine eigene Kreativität und musikalische Vorstellungen (besonders in Bezug auf die Improvisation) nicht ausleben konnte, da er sich streng an die vorgegebenen Arrangements halten mußte.
1966 lernt er Bassisten und Manager der "Animals", Chas Chandler, kennen, der ihm anbietet, ihn mit nach London zu nehmen, um dort eine Band um ihn aufzubauen. Im September 1966 treffen die beiden dort ein und Chandler ändert sofort die Schreibweise von Hendrix Vornamen. Aus "Jimmy" wird "Jimi". Grund hierfür ist der seiner Meinung nach größere Wiedererkennungswert. Sofort werden verschiedene Musiker ausprobiert und schon einen Monat später ist die neue Band komplett. Sie heißt "The Jimi Hendrix Experience" und besteht aus Noel Redding am Baß und Mitch Mitchel am Schlagzeug. Hendrix selber spielt natürlich Gitarre und tritt erstmals als Sänger an die Öffentlichkeit. Die ersten Auftritte finden schon Mitte Oktober im Vorprogramm des französischen RockÂ’nÂ’Roll- Stars Johnny Halliday statt.
Ab diesem Zeitpunkt hetzt das Management die Band unermüdlich von einer Tournee zur nächsten. Tourneen wie die erste in U.K., bei der in 30 Tagen in 26 verschiedenen Städten jeweils 2 Auftritte pro Abend absolviert wurden, blieben keine Seltenheit sondern eher die Regel. Die Band trennt sich Mitte 1969, inzwischen berühmt und kommerziell erfolgreich. In dieser Zeit sind die drei offiziellen Hendrix-Alben veröffentlicht worden.

Hendrix stellt in der Folgezeit zwei neue Bands zusammen, die "Sky Church" (auch bekannt unter dem Namen "Gypsy, Sons and Rainbows") und die "Band of Gypsys". Sein Management ist davon allerdings nicht sehr angetan und bewegt ihn unter massiven Druck dazu, Anfang 1970 die "Jimi Hendrix Experience" wieder zu reformieren. Wie schon beim ersten Mal wird die Band permanent auf diverse Tourneen um fast den ganzen Globus geschickt, so daß Hendrix keine Gelegenheit mehr dazu bekommt, ein weiteres Studioalbum fertigzustellen.
Am 18. September 1970, ausgelaugt und am Ende seiner Kräfte, stirbt Hendrix in London an den Folgen einer Schlafmittelvergiftung. Als offizielle Todesursache wird "Ersticken an Erbrochenem aufgrund der Einnahme von Schlaftabletten in Kombination mit Alkohol" angegeben. Abschließend muß man darauf hinweisen, daß das Bild von Hendrix als wilden, sexbesessenen und von harten Drogen abhängigen Musiker ganz gezielt von seinem Management in den Medien propagiert worden ist. Eine Obduktion, bei der nach Spuren von Haschisch und Morphinen in den Haaren und an den Fingerkuppen sowie nach Nadeleinstichen gesucht worden ist, fiel negativ aus.
Detaillierter nachlesen läßt sich sein Leben und die Umstände seines Todes in der Hendrix-Biographie "Electric Gypsy" von Shapiro/Glebbeek sowie in "Jimi Hendrix - Der Musiker hinter dem Mythos" von Lothar Trampert

Equipment Gitarre

Jimi Hendrix ist als "Stratocaster"-Spieler bekannt geworden. Er selbst sagte dazu einmal : "The Stratocaster is the best allround guitar for the stuff we're doing. You get the very bright trebles and the deep bass sound. I tried Telecaster and it had two sounds, good and bad, and a very weak tone variation. [ Die Stratocaster ist die beste Allroundgitarre für die Sachen, die wir machen. Man kann mit ihr die ganz hellen Höhen und den tiefen Baß-Sound hinkriegen. Ich habe es mit der Telecaster probiert, und sie hat nur zwei Sounds, einen guten und einen schlechten, und ein sehr geringes Klangspektrum.]17 Obwohl Hendrix Linkshänder war, spielte er normale Rechtshändermodelle der "Stratocaster", zog allerdings die Saiten andersherum auf. Extra angefertigte Linkshändermodelle waren zu Beginn seiner Laufbahn wohl zu teuer für ihn, aber auch später zeigte er kein großes Interesse an ihnen.
Durch das spiegelverkehrte Spielen des Instruments ergaben sich einige spieltechnische Veränderungen : Die hohen Lagen waren schlechter zu erreichen (da sich das "Cutaway" jetzt auf der falschen Seite befindet) und der Vibratoarm wird oberhalb der Saiten eingeschraubt (er ist somit der Anschlagshand häufig im Weg).
Zu seinen Instrumenten hatte Hendrix ein recht unbekümmertes Verhältnis; Sie waren für ihn nicht mehr als Arbeitsgeräte, die funktionieren mußten. Aus diesem Grund spielte er auch keine teuren Sonderanfertigungen, sondern kaufte seine "Stratocasters" wie jeder andere Musiker auch "von der Stange".
Wenn es sein mußte, kam er aber auch auf anderen Instrumenten zurecht, da er als Jugendlicher auf Gitarren der untersten Preisklasse spielen mußte, die sich meist nur schwer handhaben ließen. Hatte er allerdings die Wahl (zum Beispiel bei Sessions), entschied er sich ab 1966 immer für die "Stratocaster".
Den heute so beliebten Gitarren aus den 50er Jahren konnte Hendrix kaum etwas abgewinnen. "Everybody's screaming about the the seven year old Telecaster, and the twelve year old Gibson and the ninty-two years old Les Paul. They've gone into an age bag right now, but it's nothing but a fad. The guitars nowadays play just as good". [ Alle sind ganz verrückt nach der sieben Jahre alten Telecaster und der zwölf Jahre alten Gibson und nach der 92 Jahre alten Les Paul. Sie stehen im Moment auf diese alten Sachen, aber das ist nur eine Modeerscheinung. Auf den heutigen Gitarren läßt sich genauso gut spielen.] Wahrscheinlich konnte er mit "antiken" und somit wertvollen Instrumenten schon deswegen nicht viel anfangen, da bei seinem Umgang mit ihnen keine Gitarre besonders alt wurde (vgl. Kapitel 2.3.1 und 2.3.2). Zusätzlich zur "Stratocaster" spielte Hendrix ab 1967 in seltenen Fällen eine Gibson "Flying V" als Zweitgitarre. Da diese im Vergleich zur "Stratocaster" ein wesentlich volleres und wärmeres Klangbild hat (bedingt durch zwei "Humbucker"-Tonabnehmer), setzte er die Gitarre vor allem bei seinen ruhigen und Blues-orientierten Stücken ein. Sehr gut herauszuhören ist die "Flying V" in dem Blues "Red House", auf der Isleof- Wight-Live-Aufnahme vom August 1970.
Nach Angaben seines Gitarren-Roadies Roger Mayer verwendete Hendrix handelsübliche Saiten des Typs "Fender Rock&Roll Light Gauge" mit den Saitenstärken (in inch) 010, 013, 015, 026, 032, und 038. Ab Mitte 1967 stimmte Hendrix seine Gitarre abweichend von der Standardstimmung stets einen Halbton tiefer, also anstatt E,A,D,G,H,E auf Es,As,Des,Ges,B,Es.

Verstärker

"It was 99 percent Marshall"19. Mit dieser Kurzformel des Technikers Eric Barret ist das Thema Gitarrenverstärker im Fall Hendrix im wesentlichen abgehandelt. Seit Beginn seiner Karriere in England hat Hendrix bis auf wenige Ausnahmen ausschließlich "Marshall"-Verstärker gespielt. Wie auch Gitarrist Pete Townshend spielte Hendrix vor allem in der "Englischen Einstellung", daß heißt alle Regler am Verstärker standen auf vollem Rechtsanschlag. Sollte ein cleaner Sound erzeugt werden, erreichte Hendrix dies durch das Zurückdrehen des Lautstärkereglers an der Gitarre. Zur Erzeugung von extremerer Verzerrung nahm Hendrix zusätzlich zur "Englischen Einstelung" auch noch einen Fuzz-Verzerrer zu Hilfe.
Da eine hohe Lautstärke von Hendrix intendiert war, steigerte er im Laufe seiner Konzerttourneen kontinuierlich die Anzahl der auf der Bühne benutzten Verstärker. War es anfangs nur ein "Marshall"-Verstärker und eine "vier mal zwölfer"-Box, die auf der Bühne standen, waren es schon kurze Zeit später zwei Verstärker mit vier Boxen. Bei größeren Konzerten, wie zum Beispiel am 24. Februar in der Londoner Royal Albert Hall, spielte er über sieben Verstärker mit vierzehn Boxen. Zusätzlich wurde der Gitarrensound noch über die hauseigene PA-Anlage (PA=Public Address, Saalverstärkeranlage) übertragen. Auch wenn die Beschallung für die damalige Zeit recht beeindruckend war, würden bei gleicher Lautstärke in der heutigen Zeit wohl eher Proteste aus den letzten Reihen kommen, der Sound wäre zu leise. Der Hauptunterschied zur heutigen Beschallung ist jedoch die Tatsache, daß die PA heute lauter ist, die Musiker aber (zur Erhaltung der eigenen Gesundheit) auf der Bühne darauf achten, die Lautstärke eher niedrig zu halten.
Laut Eric Barrett standen während der späteren Hendrix-Tourneen stets zwölf bis achtzehn Verstärker mit einer entsprechenden Anzahl an Boxen zur Verfügung. Ein Grund für die große Anzahl war natürlich die extreme Materialbeanspruchung, die unter anderem auf die "Englische Einstellung" zurückzuführen war. Es mußten so häufig Teile der Anlage ausgetauscht werden, daß der Kritiker Albert Goldman 1968 in einer fiktiven Konzertansage feststellte : "Jimi Hendrix, Ladies and Gentlemen, in : The dance of the dying amp!" [Jimi Hendrix, meine Damen und Herren, in : Der Tanz des sterbenden Verstärkers!] Diese neue Dimension von Lautstärke war mit Sicherheit ein Teil des Soundkonzeptes, das Hendrix verwirklichen wollte. Allerdings war Hendrix schon vor seiner kommerziellen Entdeckung in Musikerkreisen als herausragender und im Hinblick auf seine Soundkonzeption revolutionärer Gitarrist angesehen. Er konnte also schon damals mit relativ bescheidenem Equipment in Ansätzen das bieten, was viele Kritiker und Chronisten in erster Linie auf sein überdimensioniertes Instrumentarium zurückführten.

Jimi Hendrix nutze wie jeder großartige Musiker, ganz gleich welcher Epoche oder Stilrichtung, sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Mittel aus (vgl. Kapitel 2.3). Seine künstlerische Entwicklung stand allerdings in einer Wechselbeziehung zu den ständig wachsenden technischen Möglichkeiten. Seine Soundkonzeption aber nur als eine "Wand von Lautsprechern" (Wall of Sound) darzustellen, wird dem Musiker Jimi Hendrix in keiner Weise gerecht.

Spieltechniken

Im letzten Kapitel ist deutlich geworden, daß die hohe Lautstärke durchaus mitverantwortlich für den typischen Hendrix-Sound ist. Es ist aber so, daß bestimmte spieltechnische Details sowohl im Umgang mit der Gitarre als auch mit dem Verstärker erheblich mehr musikalische Ausdruckskraft haben, diese aber erst durch die enorme Verstärkung hörbar werden. Auf diese Techniken möchte ich im folgenden eingehen.

Showelemente

Hendrix ist vor allem für seine sehr ausgefallene Bühnenshow bekannt geworden. Dabei greift er teilweise auf Showelemente zurück, die seit den 50er Jahren bei vielen Bluesmusikern üblich waren, zum Beispiel das Spiel hinter dem Rücken (T-Bone Walker) oder zwischen den Beinen (Chuck Berry). Dieses Repertoire erweiterte er durch das Spielen über und hinter dem Kopf und das Anschlagen der Saiten mit den Lippen, den Zähnen oder der Zunge. Diese Techniken hatten aber keine direkte musikalische Funktion, sondern sollten das Publikum in Stimmung bringen.
Sehr wohl hatte aber das Zerstören der Gitarren und Verstärker Auswirkungen auf den Klang. Hierbei kam es zu exzessiven Feedbacks (Rückkopplungen), die er teilweise noch mit den Reglern an der Gitarre kontrollieren konnte. Absolut sicher war die Kontrolle über den Sound aber nicht, so daß das Brummen und Pfeifen manchmal nur durch das Abschalten der gesamten Anlage beendet werden konnte. Diese nicht genau vorhersehbaren Geräusche bezog Hendrix manchmal in die improvisatorisch angelegten Teile seiner Live-Performance ein, die Regel waren solche Zerstörungsaktionen aber nicht. Der wohl spektakulärste Effekt dieser Art war das Verbrennen seiner Gitarre am Ende eines Konzertes bei angeschlossenen Verstärkern (Monterey 1967). Ob Hendrix die Grundidee dieser "Performance innerhalb der Performance" der englischen Kunststudenten-Szene entnommen hat oder ob sie als Äußerung von spontanen emotionellen Ausbrüchen zu deuten ist, bleibt ungewiß.
Wie man diese Performance (oder auch Zerstörung) bewerten mag, hängt stark von der eigenen Sichtweise von Avantgarde und alternativer Kunst ab. Es ist jedoch nicht abzustreiten, daß eine krachend zersplitternde, durch Rückkopplungen pfeifende und aufgrund überdehnter Saiten jaulende Gitarre bei entsprechender Lautstärke das klangliche und visuelle Spektrum eines Live-Konzertes enorm erweitert. Daher müssen diese Effekte (so extrem sie auch sein mögen) als eine Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten eines Musikers anerkannt werden.
Abgesehen davon hatte diese Performance im Vergleich zu anderen musikalischen Mitteln eher geringe Auswirkungen auf Hendrix Arbeit. Im Studio bei einer Schallplattenproduktion hat er diese Ausdrucksmittel jedenfalls nie angewendet.

Das Einbeziehen der "Hardware"

Der unorthodoxe Gebrauch von Instrumenten ist aus den Werken zeitgenössischer Komponisten (John Cage) kaum wegzudenken, um neue Klangmöglichkeiten zu schaffen und das Klangspektrum zu erweitern. Unabhängig von den in 2.3.1 beschriebenen Showelementen gilt dies auch für Jimi Hendrix, dessen Spieltechniken untrennbar mit den Schalt-und Regelmöglichkeiten der E-Gitarre verbunden sind. Die Vibratoeinrichtung der "Stratocaster" benutzte Hendrix nur selten auf die zu seiner Zeit übliche Art und Weise, um Einzeltöne oder Akkorde mit einem leichten Effekt zu versehen, wie es zum Beispiel bei den "Shadows" üblich war. Durch starkes Ziehen oder Drücken des Vibratoarms konnte er die Höhe eines angeschlagenen Tons um bis zu zwei Ganztöne verändern. So war es ihm möglich, einfache Tonfolgen und Melodien nur mit dem Vibratoarm zu spielen, ohne dabei die Position der Greifhand zu verändern. Dadurch konnte er in wesentlich größerem Maße ineinanderfließende, glissandoähnliche Tonbewegungen erzielen, als ihm nur durch das Ziehen der Saiten (Bending) möglich gewesen wäre. Um noch extremere Veränderungen der Tonhöhe zu erreichen, kombinierte er manchmal den Einsatz des Vibratoarms mit gleichzeitiger Betätigung der Stimmmechaniken (dies funktioniert natürlich nur mit leeren Saiten, denn auch Hendrix hatte nur zwei Hände). Ein anderer Effekt, den Hendrix von Zeit zu Zeit verwendete, beruhte auf dem abrupten Unterbrechen der Verbindung zum Verstärker. Hierfür zog er sehr schnell hintereinander das Gitarrenkabel aus dem Verstärker und wieder hinein. Dabei kommt es zu kurzen, krachenden oder brummenden Geräuschen, gefolgt von absoluter Stille und gleich darauf wieder lauter Gitarrenklang. Der Verstärker war auch eine Voraussetzung für sein Feedback-Spiel (Einbeziehung von Rückkopplungen). Bis heute ist Hendrix einer der wenigen Gitarristen, die ihre Rückkopplungen auf nur eine oder zwei Saiten beschränken können (durch Abdämpfen der anderen Saiten), während man auf den abgedämpften Saiten weiterspielt. So konnte Hendrix über "stehende" Sounds zusätzliche Riffs oder Single- Note-Linien spielen. Der Klangeindruck ist dabei so voll, daß viele Musiker, die das erste Mal Aufnahmen von Hendrix hörten, fragte, wer denn der zweite Gitarrist sei.
Die Lautstärke-und Klangregler der Gitarre benutzte Hendrix nicht wie sonst üblich, um einen bestimmten Sound einzustellen, der dann für einen ganzen Teil beibehalten wird, sondern um ausgehaltene Akkorde oder Einzeltöne in Klang und Lautstärke zu manipulieren. Diese Crescendo-Effekte oder eingefadete Sounds (der Anschlagsknack ist nicht zu hören, weil erst nach dem Anschlagen der Saite der Regler betätigt wird) kombinierte er gerne mit Tönen, die er nur mit der Greifhand spielte (Hammer on, Pull off, vgl. Kapitel 2.3.3). Dies hatte vor allem den Vorteil, daß er die Anschlagshand frei hatte, um die Regler zu bedienen. Ähnliche, allerdings stufenweise hörbare Veränderungen erreichte er mit Hilfe des Tonabnehmerwahlschalters, da die drei Tonabnehmer der "Stratocaster" jeweils ein anderes Klangbild ergeben. Neben diesen drei Schalterstellungen nutzte Hendrix auch zwei mögliche Zwischenpositionen, die vom Hersteller eigentlich nicht vorgesehen waren. Durch geschicktes Balancieren zwischen zwei Einstellungen erreichte er, daß zwei Tonabnehmer gleichzeitig angeschlossen waren. Diese Einstellung erzeugt einen sehr hohl klingenden Sound (zu hören bei "Little Wing"). Diese Einstellung ist so beliebt geworden, daß Fender die "Stratocaster" später serienmäßig mit einem Fünffachschalter ausstattete.
Eine weitere Möglichkeit der Klangerzeugung besteht im harten Anschlagen von Hals und Korpus der Gitarre. Die so entstehenden Töne sind durch die Position der Greifhand festgelegt, da durch das Schlagen die Saiten indirekt in Schwingung versetzt werden. Der entstehende Sound unterscheidet sich jedoch stark von normal angeschlagenen Tönen, da der Einschwingvorgang der Saiten ein anderer ist. So entsteht ein eigentümlich schwebender Klang, dessen Obertonstruktur je nach Intensität und Position des Schlages unterschiedlich ausfällt. Bei sehr lauter Einstellung des Verstärkers werden sogar die Schläge an sich übertragen, so daß sich eine Kombination von perkussiven und tonalen Elementen ergibt (zum Leidwesen vieler Orchestermusiker hat sich diese Spieltechnik auch bei einigen zeitgenössischen Werken durchsetzten können). Erweitert hat Hendrix diese Technik noch durch Reiben der Gitarre am Körper oder am Verstärker und durch das Anschlagen der Vibratofedern, die sich auf der Rückseite der Gitarre befinden. Einen erweiterten Vibratoeffekt erzeugte Hendrix durch das Hin-und Herbewegen des angeschraubten Gitarrenhalses. Der auf diese Weise entstehende Sound ist mit dem Fingervibrato oder mit dem Vibratosystem der Gitarre nicht zu erreichen, da beim Bewegen des Halses alle Saiten gleichmäßig in ihrer Stimmung verändert werden. Bei extremer Verbiegung des Halses nach hinten berührten die Saiten die Bundstäbchen, was wiederum zu ganz speziellen Geräuscheffekten führte. Gelegentlich bewegte Hendrix den Gitarrenhals so heftig, daß sich die Verschraubung lockerte oder sogar löste. Dies führte dazu, daß die Saiten schlaff an der Gitarre hingen oder zumindest eine starke Verstimmung der Gitarre auftrat. Dieser Effekt war allerdings nicht intendiert.
Einzelbeispiele dieser Tricks und Effekte sind in seinen Aufnahmen schwer zu finden, da er sie als Gestaltungsmittel meist mit konventionellen Techniken kombinierte. Sehr gut dokumentiert sind diese Gestaltungsmittel allerdings auf der Videoaufzeichnung des Monterey Festivals 1967. Dort finden sich viele der hier beschriebenen Spielweisen auf anschauliche Weise demonstriert.

Hendrix Repertoire an konventionellen Techniken

Anschlagstechniken :

Hendrix benutze zum Anschlagen der Saiten wie die meisten E-Gitarristen ein Plektrum. Beim Plektrumspiel unterscheidet man drei Arten des Anschlags : Das Schlagen von oben nach unten (downstroke); der umgekehrte Fall (upstroke) ist relativ selten und findet sich in der Regel nur als Bestandteil des Wechselschlags (up-and downstroke). Letzterer wird besonders von Jazz-Gitarristen konsequent praktiziert, um ein möglichst schnelles und flüssiges Spiel zu erreichen. Hendrix spielte überwiegend mit downstroke-Betonung, insbesondere beim linearen Solospiel. Nur bei schnellen single-note-Läufen und beim rhythmischen Akkordspiel setzte er aus oben genannten Gründen den Wechselschlag ein. Akzente betonte er aber auch hier meist mit Abschlagbewegungen (zum Beispiel bei "Purple Haze"). In seltenen Fällen spielte er aber auch mit dem Daumen, um einen wärmeren Klang zu erreichen. Den Fingerpicking-Stil der Country-und Bluesmusiker benutzte er nie, genauso die klassische Fingerspielweise.
Besonders beim Plektrumspiel erzielte Hendrix mit Hilfe verschiedener Anschlagspositionen ganz unterschiedliche Klangfarben. Er machte sich dabei den Umstand zunutzte, daß am Steg angeschlagene Saiten wesentlich brillanter klingen als die in Nähe des Halsübergang gespielten. Bei klassischen Gitarristen wird diese Technik schon seit mehreren Jahrhunderten angewendet, auf der E-Gitarre war Hendrix allerdings einer der ersten.
Seine Anschlagstechnik wurde im übrigen stark von seiner Arbeit in den frühen 60er Jahren bestimmt, da er in den vielen soul-orientierten Bands, in denen er spielte, meistens die Aufgabe des Rhythmusgitarristen übernehmen mußte. Gerade im Hinblick auf seine rhythmischen Fähigkeiten hob er sich deutlich von Gitarristen seiner Epoche wie Eric Clapton, Jeff Beck und Jimi Page ab. Das groovende Soul-Element, das für viele Hendrix-Titel typisch ist, fehlt ihnen fast völlig.

Grifftechniken :

Eine wesentliche Spieltechnik, die aus Hendrix Spiel nicht wegzudenken ist, ist die Hammer-on und Pull-off Spielweise. Von Hammer-on spricht man, wenn ein gespielter Ton durch Aufschlagen eines Fingers der Greifhand auf die schwingende Saite um einen weiteren Ton ergänzt wird. Dieser zweite Ton wird jedoch nicht mit dem Plektrum angeschlagen, sondern entsteht ausschließlich durch den beschriebenen Aufschlag. Das Gegenstück zu dieser Spielweise ist das Pull-off, das häufig in Kombination mit dem Hammer-on eingesetzt wird. Beim Pull-off wird ein gegriffener und angeschlagener Ton durch schwungvolles Abziehen des greifenden Fingers in eine Note überführt, die auf der selben Saite einen oder mehrere Bünde tiefer liegt. Die Saitenschwingung bleibt wie beim Hammer-on erhalten, ohne daß der Ton erneut angeschlagen wird. Diese Technik war schon vor Hendrix bekannt, wurde aber nur beim linearen single-note-Spiel eingesetzt. Hendrix führte diese Spielweise auch beim Akkordspiel ein, wobei er gegriffene und gehaltene Akkorde mit zusätzlich gespielten single-notes erweiterte, die er mit einem noch freien Finger der Greifhand spielte. Mit dieser Technik führte er eine Verschmelzung von harmonischen und melodischen Elementen herbei, wie es sie vorher noch nicht gegeben hatte. Diese Verbindung von harmonischen mit melodischen Elementen und seine Erweiterung der üblichen Rock-Harmonik (vgl. Kapitel 2.3.4) werden heute als die eigentliche Leistung im Schaffen von Jimi Hendrix beurteilt. Um das Klangspektrum zu vergrößern, entwickelte Hendrix die Hammeron und Pull-off Spielweise weiter zum one-handed-playing. Bei dieser Spielweise wird auf das Anschlagen der Saiten völlig verzichtet und längere Melodiebögen nur mit Hilfe von Hammer-ons und Pull-offs gestaltet.
Eine andere Möglichkeit, eine Saite in Schwingung zu versetzten und vor allem zu halten, ist das Fingervibrato. Hendrix Vibratotechnik wird meistens im Zusammenhang mit seinem spektakulären Gebrauch des Vibratoarms der Gitarre betrachtet, sein Fingervibrato zählt jedoch mit Sicherheit zu seinen ausgereiftesten Spielmerkmalen und verrät das Studium der großen Bluesgitarristen wie Albert King und B.B. King.22 Für sein Fingervibrato setzte er sowohl die klassische Technik ein, bei der das Vibrato im wesentlichen auf einer horizontalen Bewegung der Hand beruht (Streichervibrato), als auch das durch vertikales Dehnen (Bending) der Saiten über die Bünde erzeugte Vibrato. Letzteres Vibrato setzte er vor allem dann ein, wenn er größere Tonhöhenveränderungen intendierte. Typisch für Hendrix ist aber wieder, daß er beide Vibratotechniken auch gemeinsam oder in Kombination mit anderen Techniken verwendete. Das erwähnte Bending setzte Hendrix allerdings nicht nur für sein Fingervibrato ein, sondern insbesondere zum Erreichen der Blue-Notes, die auf herkömmliche Art und Weise nicht gegriffen werden können, da sie zwischen zwei temperierten Halbtönen liegen. Desweiteren erzielte er durch das Bending auch starke Glissando- Effekte, die sich häufig über mehrere Ganztöne erstreckten. Ein besonderer Bending-Effekt ist das Unisono-Bending, bei dem zwei Töne (häufig Grundton und kleine Sept) gegriffen werden und nur der tiefere Ton bis zur Höhe des anderen "gebendet" wird, so daß nun beide Saiten mit dem gleichen Ton schwingen. Da die Intonation dabei aber nie absolut perfekt ist, entstehen minimale Schwebungen, die den Klang voller erscheinen lassen. Hendrix beherrschte auch diese Technik, zum stilbildenden Merkmal wurde sie aber bei dem Gitarristen Carlos Santana.
Ein wenig unkonventioneller war Hendrix Angewohnheit, auch seinen Daumen zum Greifen von Baßläufen und Akkorden einzusetzen. Entgegen kam ihm bei dieser Spielweise die außerordentliche Größe seiner Hände. Gut zu beobachten ist diese Technik bei dem Bob-Dylan-Song "Like A Rolling Stone" (während des schon erwähnten Monterey Festivals), wo er den Daumen zum Spielen der Baßbegleitung einsetzt
Zum Abschluß dieses Kapitels sei noch erwähnt, daß Hendrix auch das Oktav-Spiel im Sinne des Jazz-Gitarristen Wes Montgomery beherrschte. Diese Technik setzte er aber nur selten ein und dann meistens in Instrumentaltiteln.

Hendrix erweiterte Rock-Harmonik

"No doubt, Hendrix unique chord thinking came from the unusual way that he held the guitar : upside down and backwards !" [Kein Zweifel, Hendrix einmaliges Akkord-Denken rührte von der ungewöhnlichen Art her, in der er die Gitarre hielt : Auf den Kopf gestellt und nach hinten gekehrt !].
Diese Erklärung mag für Nicht-Gitarristen vielleicht akzeptabel sein, ist jedoch völlig aus der Luft gegriffen und entbehrt jeder musikwissenschaftlichen Grundlage. Für einen Linkshänder mit umgekehrt besaiteter Gitarre ändern sich jedenfalls keine Akkordbeziehungsweise Griffbilder. Falls Steve Tarshis, von dem die zitierte Äußerung stammt, mit "backwards" den beschriebenen Hinter-dem-Kopf- Spiel-Showeffekt meinte, so ist dazu anzumerken, daß diese von Hendrix relativ selten gewählte Haltung nicht die Position darstellte, in der er das Gitarrenspiel erlernte. Für die Tatsache, daß er nicht die einfachen Standardakkorde verwendete, sind andere Gründe verantwortlich als die Lust an akrobatischen Ãœbungen. Vielmehr standen auch in seinem harmonischen Konzept konkrete musikalische Vorstellungen im Vordergrund.
Aus grifftechnischer Sicht betrachtet finden sich in Hendrix Kompositionen häufig "offene" Akkorde. Von "offenen" Akkorden spricht man, wenn nicht sämtliche Saiten gegriffen werden, sondern eine oder mehrere Saiten leer ("offen") mitschwingen. Diese Spielweise wird sonst eher von Akustik-Gitarristen angewendet. "Offene" Saiten schwingen länger und haben einen etwas obertonreicheren Klang, der in Verbindung mit gegriffenen Saiten zu minimalen Schwebungen führt. Der Klang wird auf diese Weise offener und weiter, was gerade dem vergleichsweise mittenbetonten Grundsound der E-Gitarre entgegenkommt. Abgesehen von dem klanglichen Effekt ist das strukturell interessante an offenen Akkorden aber die Möglichkeit, sie auf dem Griffbrett der Gitarre zu verschieben. Haben die offenen Saiten beim Grundakkord beispielsweise Terz- und Quintbedeutung, so können sie durch die genannte Verschiebung in einen neuen harmonischen Zusammenhang geraten und so als nahezu jede denkbare konsonante und dissonante Erweiterung fungieren.
Hendrix bekanntester nicht-offener Akkordtyp ist der "Sharp Ninth Chord", oft auch als "sieben Kreuz neun" (7#9) bezeichnet. Um Mißverständnissen vorzubeugen : Es handelt sich um einen Dur-Akkord mit kleiner Sept und hochalterierter None. Dies ergiebt auf C bezogen die Töne C,E,G,B,Dis. Zu beachten ist, daß das Dis enharmonisch verwechselt ein Es ist und somit die Mollterz von C. Dieser Akkord ist daher gleichzeitig Dur und Moll und klingt somit sehr scharf und dissonant. Aus grifftechnischen Gründen setzte Hendrix diesen Akkord in reduzierter Form ein : Er besteht bei ihm aus Grundton, großer Terz, kleiner Sept und hochalterierter None, die Quint fehlt. Im "Bebop"-Jazz ist dieser Akkordtyp seit Charlie Parker bekannt und wird dort meist in dominantischer Funktion eingesetzt. In der weißen Pop-und Rockmusik der 60er Jahre hatte dieser Akkord aufgrund seiner Klangschärfe allerdings keine Existenzberechtigung - bis zu Hendrix. Er ging sogar gleich so weit, den "Sharp Ninth Chord" in der Tonikafunktion zu gebrauchen (Foxy Lady HB29, Purple Haze HB30), meist in den Tonarten E-Dur und A-Dur, damit er die leeren Baßsaiten als Unteroktav hinzufügen konnte.
Diese spektakuläre Erweiterung der Rock-Harmonik läßt sich in Bezug auf die Reaktion beim Publikum vergleichen mit Wagners Tristan-Akkord : Es war eine Provokation und ein Kulturschock.
Ein weiterer von Hendrix häufig benutzter Akkordtyp ist der "Major Ninth Chord" (Dur Akkord mit großer None). Dieser wurde von ihm in zwei Varianten gespielt. Die erste ist eine Erweiterung eines Dur-Halbbarrée- Griffs (der Zeigefinger liegt über den drei Diskantsaiten), welche die Möglichkeit für die melodische Verzierung Oktav-None-Oktav ermöglicht (vgl. Kapitel 2.5, Analyse von "Little Wing"). Die zweite Variante besteht nur aus Grundton, Quint und None. Diese ist wegen ihrer Doppeldeutigkeit besonders interessant, da sie auch als Subdominante mit Quartvorhalt gedeutet werden kann. Grifftechnisch besteht bei der zweiten Variante die Möglichkeit, sie als offenen Akkord zu spielen, was wiederum die anfangs beschriebene Möglichkeit des Verschiebens eröffnet. Den "Major Ninth" Akkord benutzte Hendrix meist mit einem cleanen Sound, da bei starker Verzerrung komplexere Akkordstrukturen sehr verschwommen übertragen werden (vgl. HB15 und HB16, Kapitel 1.4). Interessanterweise nahm er darauf beim "Sharp Ninth" Akkord keine Rücksicht, vielleicht um den ohnehin dissonanten Charakter dieses Akkords noch zu verstärken. Abgesehen vom "Sharp Ninth" Akkord änderte Hendrix seine Auswahl von Akkorden durchaus in Abhängigkeit vom gewählten Sound. Bei starker Verzerrung reduzierte er die Akkorde oft auf sogenannte "Root"-Akkorde (Root=Wurzel). Diese bestehen nur aus Grundton, Quint und Oktav. Sie werden in erster Linie im Dur- Zusammenhang verwendet, bei Mollharmonien wird meist nicht auf die Terz verzichtet. Durch das "Ausdünnen" des Akkords wird ein direkter und druckvollerer verzerrter Sound erreicht.
"Root"-Akkorde verwendete Hendrix auch zur akkordischen Erweiterung der üblichen "Riff"-Technik. "Riffs" sind in der Rockmusik fast durchweg vom E-Baß gespielte lineare Begleit-Ostinati. Diese meist ein-bis viertaktaktigen Motive werden häufig von Gitarren und Keyboards oktaviert gedoppelt. Der harmonische Zusammenhang dieser Begleitfiguren kann natürlich auch mitinterpretiert werden, im einfachsten Fall durch den Einsatz von "Root"-Akkorden.
Jimi wußte eine Menge über Akkorde, konnte aber nicht eine einzige Note lesen. Es läßt sich nur spekulieren, wozu er noch fähig gewesen wäre, wenn er auch in der Lage gewesen wäre, Musik zu lesen. Er war manchmal sehr frustriert darüber, daß er Dinge, die er in seinem Kopf hörte, nicht umsetzten konnte.
Fazit : Alle genannten Akkorde und Griffe besitzen, wenn man sie isoliert betrachtet, ebensowenig Bedeutung wie bestimmte Anschlagstechniken oder Showelemente. Im Kontext eines auf Tonträger fixierten Musiktitels erscheinen diese Harmonien fast nie in ihrer Reinform, sondern werden stets mit verschiedenen Techniken und Effekten kombiniert. So werden offene Akkorde als Arpeggios gespielt und durch Hammer-on/Pull-off- Effekte in ihrer melodischen Funktion erweitert oder mit Hilfe von Slide- Effekten variiert; Halb-Barrée-Griffe werden mit offenen Baßsaiten unterlegt und durch Single-Note-Linien scheinbar aufgelöst; Root- Akkorde werden, ähnlich wie Oktavgriffe, als Mittel zur melodischen Gestaltung oder für Riffs eingesetzt; und so weiter.25Die von Hendrix verwendeten Riffs zeichnen sich ebenso durch ihre Verbindung von melodischen und harmonischen Elementen aus wie dadurch, daß sie die afroamerikanische Musiktradition aufgreifen und weiterverarbeiten. R&B- [Rhythm and Blues, der Verf.] und R&R- [Rock&Roll, der Verf.] Elemente finden sich in formal Blues-untypischen Stücken, der Einsatz ungewöhnlicher Harmonien sprengt in anderen Fällen den traditionellen Blues-Rahmen. Auch hier zeigt sich also ein progressiver, experimentierfreudiger Jimi Hendrix, der keine Hemmungen kennt, wenn es darum geht, Grenzen zu überschreiten. Die Tradition ist für Hendrix nicht Maßstab, sondern Material.
Im Gesamtrahmen von Jimi HendrixÂ’ Musik sind diese Akkorde ebensolche musikalischen Gestaltungsmittel wie der Gitarrensound oder eine bestimmte Art des Anschlags. Sie stellen nicht unbedingt das tragende musikalische Material einer Komposition dar, sondern nur ein Aspekt unter vielen. So sind HendrixÂ’ vielseitige Riff-Spielweise oder seine Integration von Lautstärke und Sound in die Gestaltung eines Songs mindestens ebenso entscheidend für das musikalische Endergebnis wie die zugrundeliegenden Harmonien.

"Little Wing", musikalische Analyse

Die hier vorgestellte Studioversion von "Little Wing" (HB31) wurde am 25./28. Oktober 1967 in den Londoner "Olympic Studios" mit Rhythmusgitarre, Leadgitarre, Baß, Schlagzeug, Tambourin, Glockenspiel und Gesang aufgenommen. Hendrix verwendete eine Fender Stratocaster, die er um einen Halbton tiefer gestimmt hatte. Für die Strophe und den Refrain benutzte er einen cleanen Gitarrensound, während er sein Solo mit einem angezerrten Sound spielte, dem am Ende des Solos noch auf dezente Weise ein Leslie-Effekt zugefügt wurde.
Das Intro des Stücks wird ohne Bandbegleitung nur von der Gitarre gespielt, vom zweiten Takt an unterlegt mit einem Glockenspiel, welches die Grundtöne der jeweiligen Akkorde spielt. Schon im Intro wird bereits das musikalische Material von "Little Wing" vorgestellt, welches sich in den folgenden beiden Gesangsstrophen nur unwesentlich verändert. Deutlich wird hier vielmehr, daß schon die Einleitung im Sinne der Filltechnik angelegt ist, daß also verstärkt die späteren Gesangspausen am Zeilenende ausgestaltet werden und die einzelnen Takte stets auf dem Baßgrundton des jeweiligen Akkords aufbauen.
Das Gitarrenspiel ist geprägt von der Reibung zwischen ausgehaltenen und bewegten Tönen (Takt 2,4,6), die mit ihren Ãœberlagerungsekffekten einen beinahe glockenähnlichen Sound erzeugen. Die hierbei am häufigsten vorkommenden Intervalle sind kleine und große Sekunden, die meist in der Kombination Oktav-None, None-Dezime oder Terz-Quart gedeutet werden können. Die Verbindung von ausgiebigen Gebrauch des "Major Ninth Akkords, Hammer-on/Pull-off-Effekten mit teilweise offenen Akkorden, parallel geführten Quinten (Takt 7 im Intro) sowie mit den Fingern erzeugte Slide-Effekten (slide=in den Bund hineinrutschen, Solo Takt 5) verleiht seinen langsamen Stücken eine ganz eigentümliche Atmosphäre, die stilbildend für HendrixÂ’ Balladen geworden ist. Immer ist der bluesbeinflußte Musiker herauszuhören, auch wenn der funktionsharmonische Aufbau des Stücks kaum Bezüge zu dieser Stilistik herstellt. Zwar erinnern die ersten sechs Takte von "Little Wing" mit den Harmonien Em(G),Am,Em,Hm und Am natürlich an die erste, vierte und fünfte Stufe eines Blues in e-Moll, allerdings ist die zugrundeliegende Zieltonart G-Dur zu präsent. Die anschließenden Takte 7 und 8 mit ihrer TSS31- S-D-Konstruktion (mit den Harmonien G,F,C,D) überspielt Hendrix in seinem Gitarrensolo mit einem Sexstenmotiv (h-g,a-f), das klanglich an die meist chromatisch vorkommenden Bluessexten d-h, cis-b, c-a erinnern. Dieses Motiv kommt ganz am Schluß während des Fade-outs noch einmal vor.
Das Gitarrensolo lebt, wie so oft bei Hendrix, im wesentlichen von den Bending- und Vibratoeffekten, die er hier ausgiebig verwendet (in der Transkription gekennzeichnet durch auf-und abwärtsgerichtete Bögen über den betreffenden Noten). Eingerahmt wird das Solo durch einen Flageolett-Akkord, der am Anfang und am Ende auf der cleanen Rhythmusgitarre angeschlagen wird und dann mit Hilfe des Vibratoarms extrem nach unten verstimmt wird. Der so entstehende Klang erinnert ein wenig an den "Bottleneck-Slide-Effekt".
Das Solo baut fast ausschließlich auf der halbtonlosen pentatonischen Skala mit den Tönen e, g, a h,d auf. Der zusätzliche Ton c kommt dreimal vor (Solo Takt 6, 7 und 8), davon zweimal nur als Durchgangsnote. Der Ton f kommt im Solo genau einmal vor, im Intro sogar dreimal, allerdings nur auf dem schwachen Taktteil in Takt 7. Lothar Trampert kommt in seiner Analyse von "Little Wing" daher zu einer erweiterten Tonskala mit den Tönen e,f,g,a,h,c,d. Bezogen auf die europäischen Kirchentonarten handelt es sich seiner Meinung nach also um die phrygische Skala. Allerdings übergeht er bei dieser Einordnung konsequent den jeweils letzten Takt des Intros und des Solos, der auf der Dominante D-Dur endet und somit jedesmal ein fis enthält. Betrachtet man das vorkommende f als Ausnahmeerscheinung, die auf die Doppelsubdominante F-Dur zurückgeht, so erhält man die äolische Skala e,fis,g,a,h,c,d. Letztendlich ist dies aber nicht entscheidend, weil der Gebrauch der pentatonischen Skala ohnehin überwiegt.
Interessant ist, daß der Ton h bis auf wenige grifftechnisch bedingte Ausnahmen (vgl. Bögen über dem h in Transkription 2.5.2) immer mit Hilfe von Bending oder Slide erzeugt wird und dadurch auch von der Tonhöhe des konventionell gespielten Tons minimal abweicht. Der Ton h ist Terz von G-Dur, Quint von e-Moll und somit potentielle Blue-Note. Obwohl dieser Blue-Note-Effekt nicht im typischen Septimenzusammenhang auftritt, liegt hier wahrscheinlich der Grund für die unterschwellige Blues-Atmosphäre der gesamten Improvisation. Dazu paßt auch, daß der Ton d (Septim von e-Moll und Quint von G-Dur) ebenfalls im Solo fast nur durch abwärts gerichtetes Bending vom e herunter erzeugt wird (Takt 1,2 und 6). Hier ist seine Funktion als Blue- Note offensichtlich.